Handlung als Vergegenwärtigung einer »alten«, brennend aktuellen Geschichte




Verfasst anlässlich der Inszenierung von Mozarts "Die Entführung aus dem Serail", Oper Bonn, Premiere 17. September 2023

Zu Mozarts Lebzeiten ist DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL sein größter Theatererfolg. Voller Ehrgeiz kommt er nach Wien, damals das Zentrum für Zeitgenössische Musik, um sich dort als Komponist einen Namen zu machen. Er kann sich gegen die Konkurrenz durchsetzen und erhält 1781 von Josef II. den Auftrag für ein »Teutsches Singspiel« als bewusstes Gegenstück zur vorherrschenden italienischen Oper. Zugleich soll mit diesem Stück »100 Jahre Sieg über die Türken« gefeiert werden. Der Titel der Vorlage lautet daher mit Fug und Recht: »Belmonte und Constanze oder Christentum gegen Islam.«.

Die Handlung spielt in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Wie man weiß, wurden Belmontes Braut Konstanze, ihre Zofe Blonde und sein Diener Pedrillo auf einem Schiff vor Spaniens Küste von Piraten entführt und in ein türkisches Serail verkauft – wichtig zu wissen: Das ist kein Harem, sondern ein offizielles Regierungsgebäude. Zur gleichen Zeit soll der »Seeweg nach Indien« gefunden werden. In Süd- und Mittelamerika entstehen Kolonien als neue wirtschaftliche Quellen. Und den Osmanen entgehen dabei Zölle. So verbünden sie sich im Gegenzug mit Piraten, um Europas Südküsten zu plündern. Gefangene werden freigekauft. Es kommt im Umfeld zu uns selbst heute noch schockierenden Ausbeutungen und Grausamkeiten in den Kolonien. Der Mönch Bartolomé de Las Casas macht die Gräueltaten der Konquistadoren in Westindien schonungslos in Europa bekannt. br/> Ohne vordergründige Aktualisierung: Dass ein barbarischer Krieg jegliche Zivilisation im Kern bedroht, ob im 16. Jahrhundert oder heute, eine solche Tatsache macht vor dem Theater nicht halt, im Gegenteil!
Pro und Contra: ein unerbittlicher Fronten- und Kulturkampf

Der Stoff strahlt in jeder Pore die zur Schau getragene Überlegenheit des aufgeklärten westlichen Europas aus: gegen die vermeintlich gewalttätigen und primitiven muslimischen Barbaren. Die Kriege Europas gegen das sich ausbreitende Osmanische Reich ziehen sich dabei über mehrere Jahrhunderte hin. Im Laufe der Zeit entsteht eine zunehmende Durchmischung der Bevölkerung: sogenannte »Beute-Türken«. Weit verbreitet sind dementsprechende Flugblätter, Türkenlieder, Türkenpredigten, Türkenkopfstechen, türkische Dörrköpfe als Souvenirs fürs heimische Wohnzimmer, Abbilder türkischer Karikaturen im Stadtbild, beispielsweise Rauchköpfe als Schornsteine, groteske Skulpturen an Gebäuden, Türkenmadonnen an öffentlichen Plätzen. Nicht von ungefähr greift Mozart als Klangfolie (immer wieder fordert er: »Je lauter, je besser…«) begierig die Janitscharen-Musik auf und baut sie affektgeladen und effektsicher an Schlüsselstellen seiner Oper ein, nicht zuletzt ganz am Anfang und ganz am Ende. Die Erwartung des Publikums, sich mit einer Mischung aus Vergnügen und Grauen in bedrohlich-fremde Welten zu begeben, bedient Mozart auf nahezu allen Ebenen dieses Stückes.

Permanente Lust zur Verwandlung

Als koboldhafter Schabernack, der Mozart Zeit seines Lebens gewesen ist, versetzt er das Publikum gerne mit größter Lust in permanente Schockwechselbäder. Er lässt dabei die europäischen Vorurteile und Zerrbilder gegenüber der fremden, vermeintlich primitiven Kultur auf die Protagonisten selbst zurückfallen, indem er ihnen eine lange Nase zeigt und sie danach aus dem Äußeren der Kultur- und Glaubenskämpfe in eine Art inneres Serail schickt, als befände man sich bereits in Lewis Carolls ALICES ABENTEUER IM WUNDERLAND. Er liebt besonders den Wiener Hanswurst. In einer selbst komponierten Faschingspantomime tritt er erst als Harlequin, später als Türke auf. Die Grenzen von Tragödie und Komödie bedingen einander: Je derber das Spiel als Spektakel und Klamauk anmutet (Karneval!), desto größer ist der Zwang, bislang völlig ungeahnte Nacht- und Schattenseiten in dieser unerbittlichen Konfrontation der Kulturen aufzudecken.

Straßentheater als ideales Mittel der Aufklärung

Die Lust zur Übertreibung und Improvisation ist ganz im Sinn der Dramaturgie des »Théâtre de la Foire«, des Pariser Jahrmarkttheaters, welches eine wichtige Vorlage zum »Teutschen Singspiel« bildet. Da werden auf Jahrmarktsbühnen mit großem Erfolg die Opern des Adels durch den Kakao gezogen. Es treten Tiere, Pantomimen, monsterartige Wesen auf. In den Themen- und Erlebnisbuden eröffnen sich dem Publikum anarchische Gegenwelten. Die Zensur sieht die Gefahr und schreitet mehr als einmal ein. Aber das Publikum liebt vor allem jene Vaudevilles, von denen – kein Zufall – eines die ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL beendet: Man kennt damals im Publikum sehr gut die Melodie eines solchen »Schlagers« . Lebendiges Theater »von unten«.

Und wir heute?

Man hat es bei der ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL an zahlreichen Stellen mit einem Stück jenseits der »Political Correctness« zu tun. Bei aller Begeisterung für die großartige Musik (das Werk ist voller fantastischer Arien, Duette, Ensembles, bei denen Vieles bahnbrechend neu ist: »weil da ganz die Musick herrscht«, wie es sich Mozart wünscht) lautet die brennend aktuelle Frage für die Regie: Können wir »das« überhaupt spielen? Zumal die weitere Recherche, etwa in Werken von angeblichen Vorreitern der Aufklärung wie Kant, Rousseau, Montaigne, immer deutlicher einen unverhohlenen und offenen Hass gegen Andersdenkende zutage gefördert hat. Für die Neuinszenierung ist es wichtig, das Stück »total« zu spielen, die »ganze Musick« in enger Verbindung mit den Situationen außen und innen.Um damit solch ein bewusst dialektisches Stück als essenziellen Teil einer bis heute zwiespältigen kulturellen Geschichte zu begreifen. Auch weil die Enttarnung des europäischen Rassismus im Zwielicht der Aufklärung im Stück selbst so tiefgründig verankert ist. Mozart nimmt solche »Unterwanderungen« in seiner Zeit bewusst wahr und verbindet dabei die Konflikte seiner Figuren in der Auseinandersetzung mit Eros und Tod untrennbar mit dem Widerstreit der Religionen und Kulturen. Die innere Befreiung (Liebe bis an die Grenzen der Todeserfahrung) provoziert die äußere Befreiung (die Entlarvung des Chauvinismus in der europäischen Aufklärung). Eines ist nicht zu haben ohne das andere. Das soll man in Bonn hören und sehen.

Auf- und Abtritt einer weißen Wolke – ein paar Gedanken zu Brecht/Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny


(Veröffentlicht in: „Focus 33. Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben“ Mahagonny, Oper Bonn 2022)


Spätestens wenn man Brechts nachträglich verfassten Aufsatz „Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ liest, dürfte einem klar werden, dass es sich bei diesem Werk um einen Frontalangriff gegen die herrschende „Kulturindustrie“ handelt. Um eine Verweigerung, ihre Apparate, jene „Tempel des Vergnügens“ und des Konsums zu bedienen. Jene wären eben nicht „Mittel für die Produzenten, sondern Mittel gegen die Produzenten“, indem sie „jedes Kunstwerk auf seine Eignung für den Apparat, niemals aber den Apparat auf seine Eignung für das Kunstwerk hin (zu) überprüfen.“ Die Künstler*innen würden als Produzenten unweigerlich zum Handlanger des Kapitalismus, ihre Arbeit bekäme „Warencharakter“, sie „diene der Befriedigung der Vergnügungssucht.“ Um - bei allem Widerstand - dennoch als Produzenten in den Apparat zu gelangen, den sie ja dringend benötigten, um ihr Publikum zu erreichen (dass auch dieses eine beschwerliche Angelegenheit war, die den Produzenten Brecht/Weill Eingriffe und Umarbeitungen abnötigte, wissen wir aus der Entstehungsgeschichte von MAHAGONNY), bedienten sich Brecht/Weill eines raffinierten Schachzuges: sie machten den „Genuss“, den sie einerseits aus vollem Rohr (sowohl textlich, als auch musikalisch) angriffen, zugleich zum Zentrum des Werks, zu dessen Bestimmung: Mahagonny, das amerikanische Sodom und Gomorra wird als Inbegriff des totalen Konsums zum Sehnsuchtsort aller Glücklosen und Ausgebeuteten.

Es ist auch aus heutiger Sicht noch immer erfrischend, diesen – bewusst polemisch, oft in seiner Argumentation grob vereinfachenden – Aufsatz in Gänze zu lesen, der manchen Gedanken vorweg nimmt, den Adorno später über die „Kulturindustrie“ präzisieren sollte.

Diese „Kunst der Apparate“ wird in ihrer verheerenden Wirkung exemplarisch in der 9.Szene des ersten Aktes vorgeführt.

In der vorausgeschickten Szenenanweisung heißt es:
„Vor dem Hotel „zum reichen Mann“ unter einem großen Himmel sitzen rauchend, schaukelnd und trinkend die Männer von Mahagonny, darunter unsere vier Freunde. Sie hören eine Musik an und betrachten träumerisch eine weiße Wolke, die von links nach rechts über den Himmel zieht, sodann wieder umkehrt u.s.w. (…)“

Jene rauchenden, trinkenden und schaukelnden Männer der Stadt Mahagonny doppeln hier gewissermaßen das anwesende Publikum bei seiner Tätigkeit der Kunstrezeption in suchthafter Steigerung. Die Wolke am Bühnenhimmel, welche sie „träumerisch betrachten“ dehnt den Moment konsumhafter Passivität unendlich, in dem sie – anstatt sich aufzulösen oder nach einer Weile aus dem Blickfeld zu verschwinden - unentwegt kehrt macht. Sie ist somit kein Abbild der Natur, sondern die bildhafte Verkörperung „höchster, ewiger“ Kunst, wie Brecht den Kritiker auf der Bühne wenig später sagen lässt.

Man muss dabei bedenken, dass es für Brechts Konzeption des epischen Theaters wichtig war, alle Elemente der Aufführung - Text, Musik, Bild, Darstellung - stets separat, also eigenständig zu begreifen. Ein bildliches Element sollte nach seiner Konzeption nicht eingesetzt werden, um den Inhalt (textlich oder musikalisch) einer Szene zu illustrieren, bzw. zu verstärken, sondern um eine neue Ebene zu erschließen. Dadurch sollte das Publikum aus träumerischer Passivität („glotzt nicht so romantisch“) heraus gerissen, und zu einem eigenständigen Denkprozess angeregt werden.
Ebenso schrieb Weill in einem Aufsatz von 1927, welcher sich vorrangig der „Umschichtung des Publikums“ und der damit einergehenden Notwendigkeit zur Veränderung der Produktionsweise beschäftigte : „In einer Zeit gewaltiger sozialer Umwälzungen haben wir genug zu tun, um die Existenzberechtigung...unserer Arbeit nachzuweisen. Das können wir nur tun, wenn wir den Ideen unserer Zeit, zu denen wir uns bekennen, eine unanfechtbare künstlerische Form geben. [...] Sie [die Kunst] muß aber in ihren Ausdrucksmitteln ebenso ‚ aktuell ‘ sein wie in ihren Inhalten.(…)Ich bin überzeugt, daß die Oper im traditionellen Sinne mit Wagner, Strauss und deren Nachfahren ihr Ende gefunden hat. Man muß selbstverständlich das beste der Epoche konservieren; man kann den Weg aber nicht weiter fortsetzen. [...] Die mir vorschwebende neue Form ist richtiges, lebendiges, modernes ‚Musikalisches Theater‘, in dem die Musik nach Ausdehnung und innerer Bedeutung gleichberechtigter Partner ist.“

Hier, in der 9.Szene des ersten Aktes, scheint es zunächst anders zu sein. Denn die Wolke, welche von den Männern von Mahagonny träumerisch betrachtet wird, ist in ihrer Bedeutung eines unerreichten, sich verflüchtigenden Objektes der Sehnsucht eine optische Doppelung des zeitgleich dargebotenen Musikstücks. Die einzige Irritation ist, dass die Wolke sich „merkwürdig“ verhält, wobei sie durch ihr merkwürdiges Verhalten, was sich zunächst wie ein grober technischer Fehler anfühlt, in der Lage ist, den „Fehler“ der Szene selbst sichtbar zu machen, wie er wenig später durch den eruptiven Gewaltausbruch Jimmys, der diese ganze „Dummheit“ nicht mehr aushält, formuliert werden soll.

Caspar Neher, ein langjähriger Wegbegleiter Brechts, welcher bereits früh die produktive Kraft eine künstlerischen Kollektivs aus den diversen Disziplinen für sich zu nutzen wusste, hatte zur Leipziger Uraufführung eine ganze Reihe von Bildprojektionen beigesteuert, deren Funktionsweise Brecht in seinen Anmerkungen beschreibt, vor allen in den „Sittenbildern“ des zweiten Aktes. So wurde dort beispielsweise durch die bildliche Vorwegnahme des sich zu Tode fressenden Jack zugleich die Ebene all jener (Hungernden) aufgerissen, welche zu Tode kommen, weil sich hier einer überfrisst.

Wie verhält sich nun hier das Bild der Wolke zur Szene, welche die Rezeption eines auf der Szene dargebotenen Musikstückes darstellt?

Die in der Szenenanweisung erwähnte Musik, welche am Klavier auf der Bühne gespielt wird, ist eine durch ausufernde Arpeggien im Rachmaninov-Stil aufgeblähte Bearbeitung des seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts in Europa äußerst populären Salonstückes „Gebet einer Jungfrau“ von Tekla Bardazeswka. Eine gefühlsduselige Unterhaltungsmusik der Bourgeoisie, die der Legende nach auch an Deck der sinkenden Titanic von einem Häuflein Musiker angestimmt worden ist, um die Passagiere angesichts des Todes tröstend zu „unterhalten“. Dieser Zusammenhang dürfte für Brecht/Weill bei der Auswahl des Werkzitates und seiner Platzierung an dieser Stelle des Stückes, unmittelbar vor der Ankündigung des apokalyptischen Hurrikans, durchaus eine Rolle gespielt haben.

Mitten in die Musik hinein gibt Jack zur einschätzenden Absicherung aller Anwesenden (inklusive des Publikums im Saal) den Kritiker-Kommentar: „Das ist die ewige Kunst.“ Nun stimmt Jim eine große, dreistrophige, Arie an, in der er seine sieben Jahre der harten Arbeit in den Wäldern Alaskas besingt, um das nötige Geld für seinen Aufenthalt in Mahagonny aufzutreiben.
Zunächst scheint sich diese Arie perfekt in die Stimmung der Szene einzugliedern, die ersten beiden Strophen werden durch Vokalisen der Männer zur erneut einsetzenden Begleitung des Salonstückes refrainartig beendet, welche in die märchenhafte Welt der UFA Musikfilme entführen, doch dann gibt es in der dritten Strophe einen unerwarteten Bruch. Jim: „(…) und etwas Schlechteres gab es nicht und etwas Dümmeres fiel uns nicht ein, als hierher zu kommen.“ Abrupt reißt er sich, und damit alle anderen, aus dem lähmenden Zustand drogenhafter Kunstkonsumierung.
Er springt auf, zieht den Revolver, fordert die Gründer der Stadt Mahagonny heraus: „Komm’ heraus!“ (Gemeint ist Witwe Begbick.) Er ist bereit, auf der Stelle alle niederzuballern. Tabula Rasa zu machen, mit dem unerträglichen Zustand „der ewigen Kunst“:

„Hier ist Jim Mahoney! Aus Alaska! Dem gefällt’s hier nicht!“

In der Szenenanweisung heißt es an dieser Stelle:

„Die Wolke erzittert und geht eilig ab.“

Hier zitiert sich Brecht, wie mir scheinen will, als Dichter auf ironische Weise selbst, reiht sich damit ein in den Wust von Fremdmaterialien aus der Literatur (auch der Schundliteratur, Brecht macht hier keine Unterschiede), aus dem sich Brecht in diesem Werk – und nicht nur hier – schamlos, und ganz bewusst, als Prinzip, bedient. In kapitalistischen Zeiten gibt es keinen Anspruch auf Eigentum mehr! Als der Literaturkritiker Alfred Kerr 1929 die zahlreichen Übernahmen von Balladen Francois Villons in Brechts „Dreigroschenoper” nachwies, gab sich Brecht keine Mühe, die Übernahmen abzustreiten. Er verwies stattdessen auf seine „grundsätzliche Laxheit in Fragen geistigen Eigentums” und forderte in einem Sonett, das der Neuausgabe von Karl Ammers Villon- Übertragungen vorangestellt wurde, dazu auf, es ihm gleichzutun. (!)

„Die Wolke erzittert und geht eilig ab.“:

Über eine sich verflüchtigende Wolke hatte Brecht zehn Jahre zuvor auf einer Zugfahrt eines seiner heute wohl berühmtesten Gedichte verfasst: „Erinnerung an die Marie A“ in welchem eine weiße Wolke mit ihrem kurzen Auftritt die Hauptrolle gegenüber der verblassten Erinnerung an das Gesicht der Titelgeberin einnahm. Geschrieben hatte er es seinerzeit auf die Melodie eines populären französischen Chansons, den er wohl durch die Parodie des von ihm hoch geschätzten Karl Valentin kennengelernt hatte, mit dem er eine zeitlang als Bänkelsänger aufgetreten war. Valentin hatte die sentimentale Liebesschnulze im Tingeltangel (Theater in der Vorstadt) durch eine Sängerin vortragen lassen, die bei der Ausübung ihrer „Kunst“ andauernd durch diverse Handwerker (darunter auch Valentin) in ihrer sisyphoshaften Reparatur maroder Theatertechnik gestört wird.

„An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da. (…)

Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.“

Im Wissen um die Entstehungsgeschichte dieses berühmten Gedichtes scheint mir eine weitere Parallele zur Entwicklung der 9.Szene der Oper zu stecken: so, wie Valentin radikal Schluss macht, mit einer sentimentalen, kitschigen Kunst, indem er sie zerhackstückt, als Operation am offenen Herzen gewissermaßen (es wurde berichtet, er habe – ohne Wissen seiner Schauspielkollegen – mit einer Axt während des Spiels begonnen, die Bühne zu zerlegen), so machen Brecht/Weill an dieser Stelle endgültig Schluss mit jeglicher Form illusionistischer Sentimentalität:

Ab hier hat die (alte) Kunst ausgedient, jetzt startet der Frontalangriff: Jim greift zur Pistole, zum Messer und wird zum Amokläufer wider die herrschende „Ruhe“ und „Eintracht“. Denn hier „kann keiner glücklich werden!“
Als träte ihm die Natur zur Seite, bricht folgerichtig der alles verschlingende Hurrikan los. (10.Szene) Zu einer verfremdeten Bach-Fuge malt Brecht apokalyptische Bilder der Flucht und des Todes, in deren Folge (11.Szene) Jim, der „einfache Holzfäller aus Alaska“ die Gesetze der menschlichen Glückseligkeit“ findet. Nach all der lähmenden Passivität, der matrixhaften Einlullung in eine Scheinwelt der Erfüllung, herrschen nun Schrecken, Chaos und Zerstörung. Und nur so, nur da, nur angesichts dieser Halt- und Orientierungslosigkeit – so Brecht/Weill –erfährt sich der Mensch in seiner Existenz, nur so ist so etwas wie Glück möglich. Während alle Bewohner der Stadt nach einem Erdloch suchen und sich rückwärts gewandt in mittelalterlich anmutenden Choral-Umzügen hinter der Stadtmauer verschanzen („Haltet euch aufrecht, fürchtet euch nicht“), lehnt Jim, den Naturgewalten bewusst schutzlos ausgesetzt, mit seinen Freunden und Witwe Begbick draußen an der Mauer, bildlich quasi in Erwartung der Heilsbotschaft, wie in biblischer Geschichte jene Hirten vor den Toren der Stadt, denen der Engel mit den Worten „Fürchtet euch nicht“ die Geburt des Heilandes verkündet. Jim räsoniert angesichts des „Entsetzens“, sekundiert von Begbick und den drei Holzfäller-Kumpanen, über die Kraft der Zerstörung als Prinzip des Lebens:

„So ist die Welt: Ruhe und Eintracht gibt es nicht(…) so ist der Mensch, er muss zerstören was da ist(…)was ist ein Taifun an Schrecken gegen einen Menschen, wenn er seinen Spaß will.(…) Wozu Türme bauen, wie der Himalaya, wenn man sie nicht umwerfen kann, damit es ein Gelächter gibt.(…)Was eben ist, das muss krumm werden, und was hoch ragt, das muss in den Staub.“

Und wieder: Brecht, als ungeheurer Literatur-Verschlinger und -Verwerter, bedient sich hier indirekt bei Martin Opitz’ „Trostgedichte(n) in Widerwertigkeit deß Kriegs“, geschrieben vor dem Hintergrund der Gräuel des dreißigjährigen Krieges:

Die allerbesten Stätte
Sind wie ein grosser Baum, der wächset lange Zeit
Und wird auff einen Tag hernachmals abgemeyt.(...)
es steht auff einem Rade,
Was neulich oben war, erfüllt mit Gunst und Gnade,
Das ist jetzt unten an, und was vor unten war,
Das steht jetzt oben auff, ist ausser der Gefahr.

Jim:
„Wenn es einen Gedanken gibt, den Du nicht kennst, denke ihn, du darfst es.“

Ab hier regiert die Maßlosigkeit, welcher er selbst, Jim, schließlich zum Opfer fallen wird. Der Musikwissenschaftler Gerd Rienäcker sezierte in seinem Aufsatz über die Funktion der Choräle in „Mahagonny“, dass den Brecht/Weillschen Chorälen angesichts des Todes jegliche Heilsbotschaft entzogen sei.
Wenn man die Prozessionen mit ihren Chorälen im Kontext zur quergeschnittenen Szene vor den Mauern sieht, erkennt man die brutale Konsequenz der Autoren, die das totentanzartige Ende des Stückes – als Requiem auf die Menschheit bzw das „Menschsein“ – vorwegnimmt. Zu Recht fragt Rienäcker, ob die weitläufig den Autoren unterstellte „Ironie“ im Umgang mit sakralen Motiven zutreffend sei: zu ernst, zu tief ist deren Auseinandersetzung mit der sozialgeschichtlichen und kulturellen Bedeutung dieser Motive und deren gnadenloser Fortschreibung, bzw. fragmentarisierter Überführung ins Jetzt. Wobei dieses Jetzt der Autoren aus heutiger Sicht vor allem auch aufgrund der Erfahrungen des ersten Weltkrieges als „industrialisierter Massenmord“ zu verstehen ist. Auch Karl Barths „Der Römerbrief“ erlaubte Vorstellungen göttlicher Liebe, Gnade und allumfassender Geborgenheit angesichts des Ausmaßes menschlichen Schreckens nicht mehr. Karl Krauss entwarf „Die letzten Tage der Menschheit“ Wird Gott im abschließenden Spiel „Gott in Mahagonny“ von den Bewohnern lediglich „verhöhnt“, so geht Brecht in seinem 1932 veröffentlichten Kinderbuch „Die Drei Soldaten“ – mit Illustrationen von George Grosz vorzulesen, um „den Kindern Anlass zu Fragen geben“ – noch einen Schritt weiter:dort begegnen die drei Soldaten einem hilflosen, verschuldeten, von Gewissensbissen gequälten Gott. Die drei Soldaten sind
"wutenbrannt
Und stellten den lieben Gott an die Wand
Und schossen brüllend auf ihn ein
Er konnte gar nicht so schnell Schrein
Die Drei wollten gar nichts mehr hören
Sie schrien: „So einer kann sich nicht beschweren!“
Und schossen ihn zur selbeigen Stund
So daß Gott aus der Welt verschwund.
Daß die drei Soldaten das machen
Das sind Tatsachen.
Denn bei dem großen Arbeiterheer
Gibt es den lieben Gott nicht mehr.“

Ebenso kompromisslos die radikale Absage auch an jegliche Form „romantischer Heilsbotschaften“ der Deutschen Oper:
Wenn Weill musikalisch im Lied der Holzfäller das Lied des „Jungfernkranzes“ aus Webers DER FREISCHÜTZ zitiert, mutiert der „grüne Kranz“, der bei Weber als Metapher für das „Happy End“ künftigen /Ehe)glücks steht, zum „grünen Mond“, zum Auge Gottes auf der amerikanischen Dollarnote.

Schöner grüner Mond von Alabama,
leuchte uns,
denn wir haben heute hier unterm Hemde Geldpapier für ein grosses Lachen
deines grossen, dummen Munds.

Gerade darin, und entgegen allen Anklängen an die Strukturen der Passionen von Bach im dritten Akt zeigt sich– so scheint mir – das rebellierende „Und dennoch“ der Autoren, die angesichts des allverschlingenden „Nichts“ des Geldes – und hier ist nicht nur das Menschenleben, sondern auch die Kultur gemeint, wie Adorno einige Zeit später trefflich analysierte – im Geiste von Ovids berühmter Arachne-Episode (Metamorphosen) den Faden aufnehmen. Im subversiven Fortspinnen der Geschichtsfäden kreieren sie Leben und Zukunft, jeglichen Vernichtungsbotschaften zum Trotz: unsere Zukunft!


Themenschwerpunkt Immersion 11/18: Beunruhigende „Zeichen einer Veränderung“ 


(veröffentlicht in: Die Deutsche Bühne, Januar 2019)

Die Beiträge zum Themenschwerpunkt Immersion (Heft 11/18) weisen in ihrer Breite nicht nur auf die Möglichkeiten dieser neuen Kunst- und Theaterform hin, sondern auch auf ihr Gefahrenpotenzial.
Vor allem im Interview mit Thomas Oberender wird das deutlich.
Was in den Darlegungen von Oberender auffällt, ist eine seltsame Begriffsverwirrung, die schwer zu erklären ist. Unter anderem konstatiert er:

„Dank der VR Brille schaue ich nicht mehr in den Wald, sondern ich bin im Wald“.

Auch "Dank VR Brille" ist der Zuschauer natürlich ebenso wenig im Wald wie bei allen anderen Formen des Theaters oder sonstiger darstellender Künste. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass nun andere technische Mittel herangezogen werden, um die Illusion zu erzeugen. Das Spiel mit der Illusion und dem Durchbrechen der Illusion zieht sich dagegen quer durch die Theatergeschichte und macht einen der grundlegenden Reize des Theaters aus. Der Unterschied, dem Oberender so eine große Bedeutung beimisst, ist also nur eine Nuance. Allerdings eine Nuance, die fatale Wirkung haben kann. 
Denn was sich Oberender von diesem technischen Hilfsmittel verspricht, nämlich, dass dem Zuschauer die Möglichkeit genommen wird, das Gemachte der »Realität«, die er betrachtet, zu erkennen, läuft auf die Zerstörung der Phantasie und des Vorstellungsvermögens des Zuschauers hinaus, der sonst auf spielerische Weise einen Wald sieht, wo nur Versatzstücke vorhanden sind.
Aber ohne Phantasie, ohne das Vermögen, sich etwas vorzustellen, was (noch) nicht ist, ist ein Nachdenken über mögliche und nötige Veränderungen der Welt nicht möglich. Sie erscheint als unveränderlich und hierin liegt eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
Es stellt sich damit die dringliche Frage, was die Verwendung dieser Mittel bezwecken, wo sie hinführen soll. 
Oberender konstatiert:

„Das Genre ist Ausdruck einer Veränderung“.

Damit spielt er in erster Linie auf eine Veränderung unseres Wahrnehmungs- und Rezeptionsvermögens an.  Aber durch welche (oder besser: wessen) Interessen wurde diese Veränderung bewirkt, vor allem wenn man sich bewusst macht, dass hinter dem mir als Realität vorgegaukeltem »Wald« (ebenso wie hinter dem gegebenen Zustand dieser Welt) Macher mit Name und Anschrift stecken? Jene Macher, die uns in den interaktiven »Gefügen, Gemengenlagen und Biotopen, die wir als Zuschauer mitbesiedeln«, die Freiheit der Handlung und aktiven Einmischung suggerieren, während tatsächlich alle richtungsweisenden, entscheidenden Handlungsmuster vorgegeben sind. Frau Behrend schreibt in ihrem Schwerpunkt-Beitrag zu Recht, dass der Zuschauer so schnell zum manipulierten Akteur einer anonym vorbestimmten »Realität« wird, während die Möglichkeiten, die Hintergründe zu durchschauen und Veränderungen ins Auge zu fassen weitestgehend ausgeschaltet werden.
Es handelt sich hier also um eine lediglich vorgespiegelte Freiheit, die Oberender mit weiteren Neuerungen verknüpft, die bei näherem Betrachten keine sind. Zum Beispiel:

»Scripts« kontra »zu sprechendem Text«:


Es kann nur dem spontanen Interview-Format geschuldet sein, dass ein versierter Theatermann meint, Theater habe bisher auf vorgeschriebenen Texten beruht. Das Mittel der Improvisation zieht sich ebenso wie das Spiel mit der Illusion - ebenso übrigens wie das Erproben alternativer Narrationsformen, die Oberender als weiteres Novum der „Immersion“ anführt - quer durch die Theatergeschichte. Von der stark ausgeprägten Form des Theaters der Shakespeare-Zeit, der Commedia dell’arte bis hin zu Meyerholdt oder den Wiener Aktivisten beispielsweise.
Dass die Freiheit des Agierenden dagegen wirklich größer ist, wenn ihm zwar nicht die Wörter aber sehr wohl die Aktion und Rede vorgeschrieben ist, kann allerdings niemand ernstlich annehmen.
Wenn das „script“ in der immersiven Theaterform aber für sogenannte „Aktionsmodule“ steht, mit denen das in den „Biotopen“ agierende „Personal" auf den Zuschauer - und dessen individuelle Aktionen/Reaktionen - scheinbar eingeht, um ihn tatsächlich in ein vorgegebenes „Konzept“, eine „Idee“ zu integrieren, dann nimmt das Theater unter dem Deckmantel der „avantgarde“ die Mechanismen einer „Kontrollgesellschaft“ vorweg, wie sie von Oberender als bereits real existierende konstatiert wird
Die radikale Loslösung vom vorgegebenen Text und die damit verbundene Rückbesinnung auf ältere Traditionen improvisierten (»gescripteten« Theaters), von der Theateravantgarde des 20. Jahrhunderts als kreative Verunsicherung gedacht, nicht nur eine Attacke auf unser Wahrnehmungssystem, sondern auf die Ordnung der Welt, wird so in etwas zutiefst Affirmatives überführt.
Statt sich also an einer „Innovation“ zu begeistern, die bei näherem Hinsehen gar keine ist, scheint daher vielmehr eine gründliche kritische Analyse notwendig.


textentwurf für interdisziplinäres bob dylan-projekt


„Der Tod ist ein Irrtum“
(Heiner Müller)

  „The night is filled with shadows, the years are filled with early doom
I’ve been conjuring up all these long dead souls from their crumblin’ tombs“
Bob Dylan: Rollin’ and Tumblin’ (2006)  

In seinem Drehbuch „Masked and Anonymous“ entwirft Dylan ein Mysterienspiel in der Tradition mittelalterlicher Totentänze: In einer durch globale Krisen und Korruption erschütterten Diktatur  wird ein buntes Figuren-Karussell aus Gaunern und Gauklern, Schaustellern, Medien- und Kirchenvertretern, Politikern, Jokern und „ zweigesichtigen Monstern“ dem sich mit zunehmender Wucht entladenden Sturm des „Weltengerichts“ ausgesetzt. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering konstatiert die mit dem Inhalt kontrastierenden Mittel, die Dylan auffährt wie folgt: „“Es ist die karnevalistische Vitalität des theatralen Spiels selbst, das sich dem Sterben widersetzt. Karnevalisierung bestimmt - und unterminiert - das vertrackte Ineinander von Mafiageschichte und Königsdrama, Parabel und Politsatire, Musical, Mysterienspiel und Shakespeare-Panoptikum. Dem Welttheater, dessen hier zitierte Ausdrucksformen ja immerhin von Aischylos über das Mittelalter bis zu Brecht reichen entspricht dabei die Weltmusik des Soundtracks. (…)Mag sein, dass der Tod sie alle holt, diese Könige und Bettler - aber er tut es im musikalischen Spiel, tanzend zu Dylans Musik."  Dylans Musik und Szenen werden im neuen Akademieprojekt der Bühnenbildklasse Anlass für divergierende theatralische Neukonzeptionen sein. Im kreativen Vorgang eines „Fremdmaterial - Überschreibungsprozesses“, eine bearbeite Mixtur aus wahren und erfundenen Informationen, ähnlich wie Dylans bei Plato, Shakespeare bis zu Allen Ginsberg aufgefundenen Verwertungen, ist es die selbstgesetzte Aufgabe der Studierenden, die beschworen-verschollenen, aber auch die gegenwärtigen Geister zu entdecken und auf ihre Weise neu zu beleben.

Akademie der Künste Berlin im Oktober 2017
mehr unter: http://www.adk.de/de/programm/?we_objectID=57247


disparat - ein theatrales scherenspiel


Konzeptionsentwurf für die Bühnenbildklasse der Universität der Künste in Kooperation mit der Akademie der Künste Berlin, geplant für Februar 2016

Mit subversivem Witz und Schrecken entfachen die StudentInnen ein "Menschen-Monster-Mutationen"-Spektakel, dass sich zu festgelegter Stunde theatralisch belebt: Das Publikum auf dem Pariser Platz wohnt einer Scherenschnitt-Theater- Performance über 5 Stockwerke der Glasfassade der Akademie der Künste mit Live Musik bei.

"Die Zeiten sind so wunderlich, dass niemand wissen kann, ob er ohne Verlust seines Lebens wieder heraus kommt (…) ."
Grimmelshausen, Simplicissimus Teutsch (2. Buch 8.Kapitel)

Grimmelshausens Zeilen treffen den Nerv der heutigen Zeit in einem von Krisen und Krieg geschüttelten Europa. Das Leben in einer disparaten Welt wird zum Ausgangspunkt des Projektes. Die Fassade der Akademie der Künste wird dabei zur Austragungsfläche eines bildkräftigen Scherenschnitt-Theaters im Geiste von Grimmelshausen, Goyas caprichos und co: Durch die Hinwendung zur Verfremdung, zum "mechanischen Theater", entsteht eine eigene Bilder-Welt, mit grotesken und absurden Zusammenhängen oder disparaten Größenverhältnissen und Mitteln. Verwendet werden Realitätsbruchstücke, deren "Verschnipselungen" in der künstlerischen Verarbeitung neue, irritierende Sinnzusammenhänge ergeben.

"Wir werden die Kunst des Grauens lernen und die Kunst des Springens und Rennens und Fluchens. Jeder Einzelne von uns wird eine wandelnde Enzyklopädie des Schreckens, der Angst und der Brutalität sein(…)"
Aboud Saeed: the smartest guy on Facebook (Syrien 2011-2013)

Dieses Projekt wurde - trotz großen Zuspruchs - von der Mehrheit der künstlerischen Direktoren der Abteilungen der Akademie der Künste abgelehnt. In der Begründung hieß es unter anderem, das von den Studenten entwickelte Bildmaterial sei zu drastisch.




REDSAME MÄNNER
szenische Version der a capella Männerchöre von Richard Strauss

Der Österreicher hat eine Zweizimmerwohnung. Das eine Zimmer ist hell freundlich, die gute Stube, dort empfängt er seine Gäste. Das andere Zimmer ist abgedunkelt., finster, verriegelt, unzugänglich, völlig unergründlich (...)"
Erwin Ringel, Eine neue Rede über Österreich, 1983

Der berühmte Psychiater Erwin Ringel (1994 in Kärnten gestorben) führt mit Auszügen aus seiner bedeutenden "Neuen Rede über Österreich" (1983) , als roter Faden durch den Abend. Als getriebener Untoter kann er nicht davon lassen, sich an seinem geliebten, aber auch gehassten Österreich abzuarbeiten. 
Wir befinden uns in einer eigenartigen Parallelwelt, einem zweiten Österreich, gemäß dem musikalischen Ton von Strauss, der das volkstümlich Bekannte durch abrupte Rhythmusverschiebungen oder unerwartete harmonische Wendungen gleichsam aus dem Vertrauten ins Befremdliche katapultiert. 
Das österreichische Haus ist behaust von Geistern und Dämonen, in den Chören beschworen, durch die Menschen verkörpert, die je nach Laune und Stimmung oder Willen Erwin Ringels wild hin und her springen, Aussehen und Haltung schlagartig ändern können. 
Das Haus, eben noch heimelig und Ort gemeinsamer Versammlung, kann plötzlich selbst zum Akteur werden, indem es seine Bewohner verschluckt und nach eigenem Belieben bei der anderen Tür  als dämonisch Verwandelte wieder ausspuckt. Altvertraute Zeichen können ihre Bedeutung ins Gegenteil verkehren: was eben als Sinnbild des Guten galt ist nun die Ausgeburt des Teufels. 
Gewissheit in diesem durchaus irritierenden  Spektakel des gesellschaftlichen Panoramas ist die Gemeinschaft, die ihre Existenz und Identität im gemeinsamen Akt und Gesang stetig gegen alle Widrigkeiten behauptet, auch gegen denTod, der an jeder Ecke lauert. ....
 

"Nur Bewußtes kann verändert werden, Unbewußtes natürlich nicht. Und so werden durchaus revidierbare Dinge erst durch Verdrängung unveränderbar, wir müßten also singen: „Unglücklich ist, wer vergißt, was dann nicht zu ändern ist!“ 
(...)
Erwin Ringel, Eine neue Rede über Österreich


Eröffnung der Tiroler Festspiele, 9.Juli 2015
Inszenierungsteam (in alphabetischer Reihenfolge):
Katja Czellnik, Hsuan Huang, Stefanie Lindner, Thomas Mandl, Hartmut Meyer und Martin Miotk als Erwin Ringel.







 

„Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen. Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft. Man muss die Anwesenheit der Toten als Dialogpartner oder Dialogstörer akzeptieren – Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten.“ (Heiner Müller)

GERMANIA Eine Geisteraustreibung in der Akademie der Künste am Pariser Platz


Konzeptentwurf, Vorstellungen 19. bis 22. Februar 2015

Nach ihrer spektakulären Ring-Inszenierung als performative Wanderschaft durch die Räume der Akademie der Künste am Hanseatenweg planen die Bühnenbildstudenten der Udk nun einen Angriff auf das Hauptgebäude der Akademie am Pariser Platz:
Dort gibt es seit geraumer Zeit mysteriöse Probleme mit der Belüftungsanlage und dem Grundwasser. Die Geister der Vergangenheit scheinen durch diese Kanäle an die Oberfläche zu drängen und drohen das Haus viral zu verseuchen: Albert und Adolf laborieren im Untergrund unentwegt an ihrem Entwurf zur Welthauptstadt GERMANIA, der architektonischen Versinnbildlichung politischer Totalherrschaft!
Verschollen oder vernichtet geglaubte Teiles des Originalmodells tauchen wie Eisschollen gespenstisch in Ecken und Atelierräumen der Akademie wieder auf, zwingen den Insassen neue Wege und Haltungen auf, infiltrieren sie mit politischem Gedankengut, während vor dem Brandenburger Tor bereits eine größer werdende Schar Totgeglaubter im Gleichschritt vergesse Märsche intoniert und sich zum Einzug in die Stadt formiert.
Akute Gefahr ist im Verzug!
Im Ghostbusterwagen rauscht unser Emergency-Team an und unterzieht das Haus einer Schocktherapie:
Nazimusik wird die Wände zum Vibrieren bringen um die Geister endgültig aus der Reserve zu locken. Sie werden dabei assistiert durch eine Gruppe von Asylanwärtern, die glücklich sind, die von ihren Urahnen überlieferten Vodoo-Methoden nun auch auf Hitler und Co anzuwenden....
Die wandernde Gruppe der Schaulustigen die dem Spektakel beiwohnt ist erstaunt, welche bizarren Geister da so alles zum Vorschein kommen: möglicherweise liefern sich Marika Rökk und Zarah Leander ein erbittertes Kill Bill Gesangsduell in den Toiletten (weil da die Stimme so schön klingt), während sich Johannes Heesters in den Katakomben eine Art Stummfilmkino eingerichtet hat wo er im Endlosloop "Ein Lied geht um die Welt" zur historischen Originalfilmaufnahme zelebriert, während Luis Trenker vom Berg gerufen wird und sich im Treppengewirr verirrt.
Auszüge aus Heiner Müllers GERMANIA TOD IN BERLIN kommen ebenso zum Tragen wie Originalmaterial von Adolf Hiitler, Nietzsche und Co. Wir sind noch dabei, das historische Material zu sichten und zu einer grotesken Totenrevue mit ultimativem showdown vor dem Brandenburger Tor zu bündeln!
Wie immer bei KO werden die jungen Menschen der Bühnenbildklasse sich Teams zusammen suchen bestehend aus Musikern. Sängern, Schauspielern, Puppenspielern, Filmemachern und sonstigen Kreativen.
Auszug aus Touristenführer zur Akademie der Künste am Pariser Platz:
(...) which became the Nazi’s Generalbaudirektion (Head Office of Construction). Albert Speer – Hitler’s architect – used it as his headquarters to model and redesign Berlin into Nazi visionary ‘Germania’ as the capital of the German Reich.
(...)Vorteil der Lage am Pariser Platz war, dass Hitler zu Fuß durch die Ministergärten zum Palais gelangen konnte, um dort unbemerkt von der Öffentlichkeit die Modelle und Pläne für den geplanten Umbau Berlins zur ‚Welthauptstadt Germania‘ zu besprechen und zu besichtigen.
(Wikipedia Artikel zum Generalbauinspektor Albert Speer)






der idiot und das team


"...aus der conditio humana selbst folgt, daß Menschen ihre begrenzten Intelligenzen so miteinander kombinieren sollten, daß sie gemeinsam klüger würden."
(Sloterdijk)

Schaut man auf die jüngere Entwicklung im Theater, so fällt angenehm auf, dass die Zeit der starren Hierarchien allmählich vorbei zu sein scheint.
Ein Systemwechsel steht bevor, sicher auch begünstigt durch das Gefühl der Stagnation, der Lähmung oder - noch schlimmer - der Überflüssigkeit.
Neue Impulse kommen interessanterweise meist von unterschiedlich zusammengewürfelten Kollektiven aus den Grenzbereichen zur freien Produktion oder - im Musiktheater - aus der Hinwendung des Sprechtheaters zum (leider oft falsch verstandenen) Pathos.

Im Schatten der wankenden Großinstitutionen, die ihre Position durch Fassadenklitterung behaupten wollen, anstatt die eingerostete Konstruktion einer Grunderneuerung zu unterziehen, schiessen neue Keimzellen emsiger Produktivität wie die Pilze aus dem Boden. Statt karriereorientiertem Alleingang herrschen dabei Teamgeist und die Neugier auf das jeweils Andere vor, das Bedürfnis nach Potenzialergänzung im Idealfall durch ein virtuoses "tiqui taca" Spiel. Beweglichkeit, Mut zum Positionswechsel und Austausch sind gefragt, mehr als Originalität, Positionsbehauptung und Abgrenzung.
Solche Dinge können im Bewusstsein verankert und trainiert werden, vorausgesetzt, der Spieler erkennt den Wert des Teamspiels.

"Der Idiot ist Experte fürs Eigene und Laie für alles übrige, und in diesem Sinn sind alle Menschen in einem wohlverstandenen Sinn zunächst und zumeist idiotisch."
(Sloterdijk)

In so einer neu zusammengestellten Mannschaft ist auch die Position des "Bühnenbildners" einer Überprüfung zu unterziehen entwickelt sich eine szenischen Konzeption doch im gegenseitigen Ballzuspiel, bei dem man im Idealfall am Ende nicht mehr unterscheiden kann, wer auf welcher Position spielt, bzw. unwichtig wird, durch wen der Punkt errungen wurde.
Die (künstlerischen) Mittel sind dabei sekundär, bzw. müssen einem ständigen Updating unterworfen , der jeweiligen Spielstrategie angepasst und entsprechend verändert werden.

Gerade haben wir bei dem Komponisten Helmut Oehring, zu dessen 2006 in Basel uraufgeführten Oper UNSICHTBAR LAND wir zur Zeit szenische Konzeptionen entwickeln, erleben können, wie wunderbar sich so ein Team erweitern kann. Im Gespräch legte er dar, wie Konzeption und musikalische Entstehung des Werkes im permanenten Dialog mit Regie und Bühne entstanden ist. Ein schönes Nebenergebnis dieser Begegnung war seine offensichtliche Begeisterung von den unterschiedlichen Konzeptionen der Studenten zu seinem Werk und die daraus formulierte Idee einer künftigen gemeinsamen Arbeit.

So erleben wir immer wieder, dass sich aus vermeintlichem "Trockenschwimmen" bzw. "Simulationstraining für den Ernstfall" während der Semesterarbeiten ganz plötzlich Möglichkeiten eröffnen, die in Bereiche der professionellen Produktion reichen.

Angeregt wird das unter anderem durch Verlinkung der Semesterarbeiten mit Profi-Produktionen aus den unterschiedlichsten Gebieten.
Während der Arbeit an TERRORISMUS der Brüder Presnjakov hatten wir neben dem Dramaturgen des Deutschen Theaters Roland Koberg den russischen Filmregisseur Andrej Nekrasov mit seinem neuesten Film über Anna Politkovskaja und Alexander Litvinenko (THE LITVINENKO CASE)bei uns im Atelier.
Zu 3 VON 5 MILLIONEN den Stückautor Armin Petras (alias Fritz Kater), zu den PERSERN die Kosovo-Reporterin Caroline Fetscher, und nun zu UNSICHTBAR LAND den Komponisten Helmut Oehring.

Erste Schritte in die Profiwelt sind inzwischen wesentlich schneller gemacht: Immer mehr Theater leisten sich Nebenspielstätten und Werkstattbühnen, wo der Nachwuchs ran darf.
Dabei mag oft auch der finanzielle Faktor eine Rolle spielen: in Zeiten von Etatkürzungen sind die jungen Teams einfach auch billiger als die großen Stars. Aber umgekehrt ergeben sich eben genau dadurch auch eine Vielzahl von Chancen, wie sie noch vor 10 Jahren so nicht bestanden haben.
Entscheidend ist, dass man all diese Möglichkeiten - auch die während des Studiums (so z.B. die halbjährigen Regiearbeiten der Studenten in Zusammenarbeit mit der Komischen Oper und dem Hebbeltheater)- nicht als Vorausgesetzt annimmt. Meint man den "Sieg schon in der Tasche zu haben" ist das Spiel bereits verloren.

Das ist eine Einstellungsfrage, bzw. die nach einer Haltung, die neben Lust und Spielfreude eben auch Hartnäckigkeit, Ausdauer und Unbedingtheit fordert. Ohne diese Haltung braucht man gar nicht erst anzutreten, davon geben unsere eingeladenen "Experten des (Profi)Alltags" eine Ahnung.

Katja Czellnik, Gastprofessorin Universität der Künste, 2009








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